2025: Künstliche Intelligenz (KI; treffender: maschinelles Lernen) ist aus dem Marketing kaum noch wegzudenken. Die Hoffnung: Mit neuen KI-Systemen sollen Unternehmen vollautomatisch und kostengünstig Kund_innen erreichen und beeinflussen.

Doch die Vorhersagen über KI sind eher unterschiedlich.

Manche prophezeien, dass Zigtausende Jobs wegfallen werden. So hat British Telecom bereits 2023 angekündigt, bis 2030 55.000 Stellen abzubauen – aufgrund des geplanten Einsatzes von KI.

Einige fürchten, dass die KI die Weltherrschaft übernehmen und Menschen unterjochen könnte.

Andere sorgen sich um die Zukunft der Demokratie: Aktuelle gesellschaftliche Trends wie Desinformation und Fake News oder Wahlmanipulation durch soziale Medien würden durch KI verstärkt.

In der Debatte rund um maschinelles Lernen im Marketing kristallisieren sich zwei Extreme heraus:

  • Viele skeptische Marketing-Profis greifen auf bewährte manuelle oder automatisierte Prozesse ohne KI zurück und warten erst einmal ab.
  • Influencer_innen und die, die es werden wollen, veröffentlichen hingegen LinkedIn-Posts und Blogartikel, in denen sie maschinelles Lernen zum Nonplusultra deklarieren. Nach dem Motto: „Bald brauchen wir keine Texter_innen mehr, ChatGPT schreibt all unseren Content!“

3 KI-Experten. 3 Perspektiven. 3 Prinzipien.

Wie so oft bieten die Extreme kaum Orientierung für fundierte Entscheidungen. Daher haben wir drei KI-Experten befragt:

  1. Michael Mörike, Vorstand der Integrata-Stiftung für humane Nutzung der Informationstechnologie. Als Informatikpionier richtete er schon 1969 Prozessrechner für die Uni Tübingen ein. Seitdem war er in der Geschäftsführung verschiedener Unternehmen sowie als freiberuflicher Projektleiter tätig. Heute setzt er sich maßgeblich für die Verbreitung von Kenntnissen über die Grundlagen zu „Ethik und KI“ ein.
  2. Dr. Ingmar Schuster, CEO & Co-Founder von Exazyme. Das deutsche Start-up nutzt KI, um den Prozess des Protein-Engineering in der Pharma- und Biotechnologie-Branche zu vereinfachen und beschleunigen.
  3. Dylan Thompson, Co-Founder und Head of Product & Design bei Balloonary. Das luxemburgische Marketing-Start-up sieht sich als Self-Service-Werbeagentur mit KI-Autopilot für KMUs und Solo-Selbstständige.

Gemeinsam bringen wir Licht ins Thema – und stellen dir 3 zentrale Prinzipien vor, um maschinelles Lernen ethisch verantwortlich im Marketing zu nutzen.

1. Betrachte maschinelles Lernen als Werkzeug, nicht als Zauberstab

Zur Einschätzung von Chancen und Risiken ist es hilfreich, KI nüchtern zu betrachten. Hoch entwickelte Technologie erweckt leicht den Eindruck, etwas geschehe „automagisch“ – während in Wirklichkeit klar definierte Prozesse ablaufen. Als Laien können wir sie bloß nicht beobachten oder erklären.

Den meisten Menschen geht es nicht nur mit KI so. Viele von uns nutzen täglich Kühlschränke, W-LAN oder TV-Fernbedienungen, können aber nicht im Detail beschreiben, wie sie funktionieren. Dennoch glauben wir nicht, dass es hier um Zauberei geht – und schätzen die technischen Möglichkeiten ziemlich realistisch ein.

Wenn wir mit derselben Haltung maschinellem Lernen begegnen, sind wir gut gewappnet gegen den Hype. Zugleich schützen wir uns vor Panikmache.

Laut Ingmar Schuster haben wir es „nicht mit Magie zu tun, sondern mit Mathe“. Für ihn ist KI einfach ein besonders nützliches Werkzeug:

Richard Feynman hat einmal ein buddhistisches Sprichwort zitiert: „To every man is given the key to the gates of heaven; the same key opens the gates of hell.”

Das ist schon bei einfachen Werkzeugen so – Messer und Hammer sind unheimlich praktisch im Alltag, aber können auch als Mordwaffe benutzt werden.

KI ist eine absolute Schlüsseltechnologie. Wir können sie nicht einfach zurück in eine Kiste stecken und hoffen, dass nichts passiert. Wir müssen während der Benutzung lernen. Und wir werden dabei Fehler machen.

Sehr konkret: Es ist legitim, mit KI Medikamente zu entwickeln. Aber mit der gleichen KI, die therapeutische Wirkung eines Medikaments maximiert und Toxizität minimiert, kann man auch ein Gift herstellen. Man muss dafür nur eine Zahl mit -1 multiplizieren, und das ist absolut wörtlich gemeint. Das könnte illegitim sein – aber auch dafür gibt es Anwendungen wie Sterbehilfe, die zum Beispiel in der Schweiz erlaubt ist.

Eigne dir Grundkenntnisse in maschinellem Lernen an

Schon mal einen Kühlschrank gekauft?

Die meisten Kund_innen informieren sich über den Markt, bevor sie sich für ein Modell entscheiden. Beinahe unbemerkt lernen sie dabei eine Menge über Kühlschränke:

  • Welche Features es gibt
  • Welche Merkmale für den Preis ausschlaggebend sind
  • Welche Marken in welchem Energiesparsegment vertreten sind
  • Vielleicht sogar, welche Kühlmittel FCKW ersetzt haben

Mach es bei KI-Tools genauso.

Du brauchst nicht gleich Computer Science zu studieren. Doch mit einem grundlegenden Überblick über den Markt vermeidest du Fehltritte.

Halt den Ball flach: KI kann nicht alles können

„Intelligenz ohne Körper, ohne eigene Erfahrungen mit der Umwelt ist kaum möglich“, urteilte Markus Knauff, Professor für Psychologie und Kognitionsforschung an der Universität Gießen, 2020 in Psychologie Heute. „Und Intelligenz ohne echtes Wissen über die Welt, ohne die Möglichkeit, etwas als wahr oder falsch, als Ursache oder Wirkung zu erkennen, ist kaum vorstellbar.“

Dies echte Wissen, eigene körperliche Erfahrungen, stehen KI nach wie vor nur über Umwege zur Verfügung: durch von Menschen erdachte Sensoren, durch menschliches Feedback – oder als Text, Foto, Video im Trainings-Datenpool. Letzterer ist häufig nicht auf Echtheit oder Repräsentativität hin optimiert.

Die Folge:

  • Fakt, Falschinformation und Fiktion werden gleichberechtigt beim Training genutzt.
  • Wer keine Cookies akzeptiert oder Inhalte veröffentlicht, bleibt für die Algorithmen unsichtbar.
  • Gesellschaftliche Schieflagen werden unkritisch reproduziert, wenn die KI nicht explizit antirassistisch, antisexistisch und inklusiv konzipiert wurde.

Knauff zitiert die bekannte Redensart: garbage in, garbage out. „Wo du Müll hineinsteckst, kommt auch Müll heraus.“

Kurz vor dem Ende des Drittpartei-Cookies wird die Frage nach den Datenquellen erneut relevant. Vieles, was KI bisher über unser Online-Verhalten wusste, erfuhr sie über Tracking-Cookies. Wo diese Möglichkeiten wegfallen, sind Unternehmen auf freiwillige Angaben ihres Publikums angewiesen. Qualitativ hochwertige Informationen statt garbage erhält aber nur, wer ein solides Vertrauensverhältnis aufgebaut hat. Sonst drohen massenweise Fake-Profile und -umfrageergebnisse die Datengrundlage zuzumüllen.

Nicht zuletzt gehören auch die Prompts (Anweisungen an die KI) zum Input. Gute Prompts zu schreiben ist ein Fach für sich! Viele enttäuschte Nutzende hätten mit mehr Kenntnissen über Prompts womöglich bessere Ergebnisse erzielt. Auch hier gilt also das Motto vom Müll.

Faustregel: Je klarer umrissen der Einsatzbereich, um so höher die Chancen für ethisches Marketing mit KI

Mit ChatGPT oder Jasper Webinare transkribieren, daraus den kompletten Marketingfunnel inklusive aller Inhalte erstellen – vom YouTube-Video über E-Mails bis hin zur Landing Page – und das vollautomatisch: So ähnlich sieht die nahe Zukunft aus, die mancher LinkedIn-Post prophezeit.

Doch wer regelmäßig Interviews transkribiert oder Übersetzungssoftware nutzt, weiß: Künstliche Intelligenz produziert allerhöchstens mittelmäßige Inhalte. Erfolgreiches Marketing baut nämlich Beziehungen auf und pflegt sie. Das geht nicht ohne Originalität und Emotion.

Genau darin ist KI (noch) schwach, sagt Dylan Thompson:

KI kann zweifellos dabei helfen, viele Prozesse zu optimieren, allerdings sollte das persönliche Element nicht zu kurz kommen. Das merken wir auch selbst immer wieder mit unseren eigenen Kunden. Selbst wenn viele Unterhaltungen in unserem Live-Chat auch von KI geführt werden könnten, gibt es immer wieder Sonderfälle, in denen eine KI nicht weiter käme. 

Echte Empathie, Authentizität und Flexibilität, die in der Kommunikation mit Kunden nötig sind, können zumindest heute von KI-Systemen noch nicht vollständig ersetzt werden.

Deswegen ist es äußerst unwahrscheinlich, dass KI jemals menschliche Designer_innen und Texter_innen ersetzen wird. Auch Neil Patel glaubt, dass man immer Menschen brauchen wird, die die Marke erschaffen, bezahlte Werbung erstellen und zu anderen Menschen in der Begegnung eine emotionale Bindung aufbauen. Denn KI könne allenfalls stellenweise hilfreich sein. Er beobachtet, dass Firmen schon jetzt durch die Verwendung von KI im Marketing faul würden und Aspekte, die von KI nicht übernommen werden können, vernachlässigen.

Da spiele es auch keine Rolle, ob KI-generierte Inhalte für Suchmaschinen optimiert seien. Denn es gebe bereits für einen Großteil der Keywords viel mehr optimierte Webseiten als Suchanfragen. KI-Tools mögen zusätzliche, optimierte Inhalte erstellen – aber Google sei ohnehin dabei, den Algorithmus und damit die Suchergebnisse stetig zu verbessern. Dabei stehen Qualitätsmerkmale wie die Urhebermarke, Zitate und Verlinkungen oder Aktivität in sozialen Medien im Vordergrund. Und die sind allesamt außer Reichweite von KI.

Zusammengefasst: Je klarer ihr euch darüber seid, wo die Grenzen eurer KI-Nutzung im Marketing liegen, um so eher werdet ihr damit Erfolge sehen. Orientiert euch an der 80-20-Regel: KI kann uns 20 % des Aufwands abnehmen. 80 % der gedanklichen Vorarbeit, Strategien und Inhalte müssen von Menschen kommen, damit KI überhaupt sinnvoll arbeiten kann.

2. Setzt maschinelles Lernen ein, um eure Mission optimal zu erfüllen

Prüft, wie die Ziele von KI-Tools euren Werten dienen

Ist es ethisch sinnvoll,

  • dieses Tool
  • auf diese Art
  • zu diesem Zweck zu verwenden?

Die Antwort darauf könnt ihr vom ethischen Kompass eures Unternehmens ablesen: eurem Intention Stack aus Vision, Mission, Ziele, Werte und Prinzipien. Wie jede App ist auch KI eine strategisch-taktische Entscheidung.

Profitmaximierung sollte nie das einzige Ziel der KI-Nutzung sein

Nehmen wir den Einsatz von KI für targeted Ads (zielgerichtete Werbung) als Beispiel. Dylan Thompson sieht eine Menge Chancen, aber auch Gefahren:

Mit KI sehen wir wahrscheinlich weniger völlig unterdurchschnittliche Inhalte. Präziseres Targeting dürfte dafür sorgen, dass Nutzende weniger mit Werbung in Kontakt kommen, mit der sie nichts anfangen können. Hier hat KI auch und gerade bei Einhaltung des Datenschutzes die Chance, mehr rauszuholen. Also präziseres Targeting trotz solidem Datenschutz. … 

Auch wenn viele beim Thema „generative KI“ an die Erzeugung von Inhalten denken, so öffnen sich eine ganze Menge weiterer Anwendungen, die aktuell nicht ganz so viel Aufmerksamkeit bekommen. Dazu zählen zum Beispiel die Analyse und Vorhersage von Nutzer_innenverhalten und letztlich deren Beeinflussung.

Im Marketing spielt das Überzeugen von Menschen natürlich immer eine Rolle. Allerdings beginnt die Gefahr in meinen Augen, wenn wir KI für die interaktive Kommunikation mit Nutzenden gezielt im Rahmen von Kampagnen einsetzen. Geeignete Systeme hätten vermutlich umfassendes Wissen über den_die Nutzer_in und deren vorheriges Verhalten und wären darauf trainiert, Menschen zu überzeugen. Für mich ist das eine Linie, die wir nicht überqueren sollten.

Auch Ingmar Schuster sieht vor allem die Absicht hinter der Taktik als Risiko:

Zielgerichtete Werbung an sich ist eigentlich moralisch für mich das größere Problem als die Frage, ob die Inhalte handgeschrieben oder KI-generiert sind. In Donald Trumps Wahlkampf beispielsweise wurden seine Positionen in „persönlichen Nachrichten“ in sozialen Netzwerken angepasst, je nachdem, ob es sich bei den Wahlberechtigten um Waffenliebhaber handelte, die Abtreibung befürworteten, oder Abtreibungsgegner, die Waffen reglementieren wollten.

Deshalb ist es so wichtig, dass Unternehmen mehr antreibt als Profit. Michael Mörike erklärt:

KI verfolgt keine anderen Ziele als die, die wir Menschen haben. Die Ziele der KI sollten wir mit unseren Werten vergleichen. Wenn es Ziel der KI ist, möglichst viel über Kund_innen zu erfahren, damit ich sie möglichst gut ausnutzen kann – dann ist es nicht ethisch vertretbar.

Governance für den Einsatz von KI im Unternehmen: besser früher als später

Unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung setzt den moralischen und gesetzlichen Rahmen. Doch KI hat das Potenzial, diese Grundordnung anzugreifen. Wenn ihre Ziele nicht dem Gemeinwohl dienen, muss das nicht die Absicht der Nutzenden sein: Sie wurde vielleicht wertfrei, rein auf finanzielle Erfolgsquoten hin, trainiert.

In der EU und in Deutschland wird deshalb über Regulierung gesprochen. Werte und Prinzipien wie wahrheitsgemäße Werbung, ein Verbot diskriminierender Zielsetzungen und Datenschutz sollten auch für KI gelten. Aufgrund der Komplexität von KI wird auch ihre Anwendung komplexer. Beispielsweise berichtet The Drum, dass Muster-Daten und Informationen zu einzelnen Nutzer_innen extrem umfangreiche Datensätze ergeben. Mit deren Hilfe könne man individuell vorhersagen, in welchen Szenarien eine Kampagne für sie relevant ist. Qualifizierten diese Vorhersagen automatisch, wem ein Unternehmen welche Angebote macht, stelle sich die Frage nach Inklusion. Wen schließen wir systematisch aus – womöglich, ohne es zu wissen?

3. Transparenz ist das A und O

Erinnerst du dich an das Transparenz-Prinzip (publicity principle) aus Kapitel 2.2? Auch für die ethische Beurteilung von KI im Marketing ein prima Gedankenspiel!

Achtet bei der Wahl von Anbietern auf Transparenz

KI-Anbieter wollen selbstverständlich ihr intellektuelles Eigentum schützen. Das sollte aber nicht zu nebulösen Websites führen! Die folgenden drei Fragenkataloge bieten euch Orientierung.

Geht transparent mit eurer Nutzung von maschinellem Lernen um

Dylan Thompson versteht die Forderung, mit KI generierte Inhalte zu kennzeichnen. Dafür sprechen aus seiner Perspektive unter anderem Transparenz und das Verhindern von Desinformation.

Dennoch ist er nicht davon überzeugt, dass eine Kennzeichnung diese Probleme tatsächlich lösen würde – und gleichzeitig würden neue Probleme geschaffen:

Zum Beispiel wäre es schwierig bis unmöglich, KI-generierte Inhalte nachzuweisen. Eine Kennzeichnungspflicht würde potenziell die künstlerische Freiheit einschränken und grundsätzlich weitere Innovation hemmen. Die Situation erinnert mich leider sehr an die Regulierung um die allgegenwärtigen Cookie-Banner.

Ganz unabhängig von der rechtlichen Entwicklung lohnt es sich aber, die Nutzung von KI im Marketing nicht komplett zu verschweigen. Transparenz ist schließlich keine Einbahnstraße, sondern eine Kette von Vertrauen. Genau wie ihr lieber mit Anbietern arbeitet, die euch nichts verheimlichen, geht es auch eurem Publikum.

Ähnlich wie beim Datenschutz bietet sich eine Risikobewertung an.

4. P. S.

Auch bei High Tech darf der Spaß nicht zu kurz kommen. Deshalb hier noch eine Idee für eine nette Team-Aktivität.

Wie soll’s weitergehen?

Etabliert datenschutzfreundliches Marketing an den praktischen Beispielen SEO und CRO oder stöbere direkt in der Toolbox zu Kapitel 3.