Wir leben im Informationszeitalter. Informationen sind der Rohstoff unserer Zeit. Damit gewinnen Daten an unschätzbarem Wert.

Auch im Marketing läuft nichts mehr ohne Daten. Unternehmen wollen wissen, wer wann wo wie mit welchen Inhalten umgeht. Wer was verkaufen will, fühlt sich oft gezwungen, diese Methoden zu nutzen. Denn wer will schon pleite gehen, weil die Konkurrenz mit gezielter Meta-Werbung mehr Marktanteil gewinnen konnte? Selbst NGOs, öffentlich-rechtliche und staatliche Initiativen bedienen sich des sogenannten Behavioral Advertising, um unsere Aufmerksamkeit zu gewinnen.

Behavioral Advertising – von der Wiege bis zur Bahre

Wurde früher mit einer Mischung aus Kreativität, Daumendrücken und Best-Guess-Verfahren geworben, erheben wir nun ständig und überall Daten: Vom Aufwachen bis zum Einschlafen sammeln Smartphones, Wearables, Website-Cookies und soziale Medien Daten darüber, was wir tun, mit wem wir zusammen sind, wo wir gerade unterwegs sind. Software-Tools werten sie aus und stellen sie übersichtlich dar. Auf dieser Basis werden passgenaue Produkte in den Feed gespült. Und Künstliche Intelligenz (KI) erstellt ganze Websites und Lead-Generation-Kampagnen – selbstverständlich personalisiert. 

So verschwimmen die Grenzen zwischen Marketing und Nicht-Marketing: Auch Aktivitäten wie Schlaf, die auf den ersten Blick nichts mit Marketing zu tun haben, werden zu Marketingzwecken ausgewertet. Mit anderen Worten: Gesellschaftliche Ressourcen werden umfassend für die Datenerhebung zu Marketingzwecken in Anspruch genommen.

Das erinnert an die Definition von Totalem Krieg als eine Art der Kriegsführung, „bei der die gesellschaftlichen Ressourcen umfassend für den Krieg in Anspruch genommen werden, insbesondere für eine industrialisierte Kriegsführung.“

Dabei geht es uns nicht darum, den Zweiten Weltkrieg zu verharmlosen. Wir wollen deutlich machen, dass der „planvolle, totale Einsatz aller geistigen, wirtschaftlichen und technischen Machtmittel“ zu Marketingzwecken unsere Gesellschaft in ähnlicher Weise mobilisiert wie in den 1940er-Jahren der Krieg (Zitatquelle: Wilhelm E. Mühlmann (1940), Krieg und Frieden. O.O. 1940, S. 9.).

Und wir wollen aufrütteln, denn:

Diese Art des Marketings ist eine entmenschlichende Dystopie

Der spanische Soziologe Prof. Manuel Castell beschreibt unser Wirtschaftssystem als informationellen Kapitalismus. Wirtschaftswissenschaftlerin Shoshana Zuboff ging noch einen Schritt weiter und prägte 2014 den Begriff des Überwachungskapitalismus. Damit ist sowohl unser sozialökonomisches System gemeint als auch das Geschäftsmodell vieler erfolgreicher Unternehmen unserer Zeit – wie Meta oder Google.

Waren im Industriekapitalismus Fabriken und Maschinen in den Händen weniger, sind es heute Daten und Informationen. Und während frühere Generationen keine Wahl darüber hatten, wo sie wie zur Arbeit oder im Krieg eingesetzt werden, ist heutzutage unsere Verfügungsgewalt über unsere Daten stark eingeschränkt.

Denn trotz DSGVO wird unser Verhalten überwacht („getrackt“). Diese gesammelten Daten können einige wenige Unternehmen, Hacker_innen und gelegentlich der Staat kombinieren und nutzen – aber wir als Einzelne meist nicht. Wer welche Daten sammelt und besitzt, wird dabei nur selten demokratisch bestimmt. Was technisch möglich ist, entscheidet. Damit ist der Überwachungskapitalismus ein Angriff auf das Menschenrecht auf Privatsphäre. Eine Missachtung internationaler Konventionen – und damit Beispiel für die totalen Methoden des totalen Kriegs und Marketings.

Castells und Zuboffs Perspektiven ist gemeinsam, dass Information die Grundlage von Wohlstand darstellt. Entweder, indem die Informationen verkauft werden: zum Beispiel ein Forschungsbericht oder die persönlichen Daten von illegal gehackten Nutzungskonten. Oder indem Informationen analysiert und beispielsweise zu Marketing-Profilen zusammengefasst werden.

Solche Profile ermöglichen die verhaltensökonomische Steuerung. Unser Entscheidungsprozess wird untergraben, sodass wir unser Leben, Konsum und politische Wahlen nicht mehr frei und bewusst gestalten. Dies entspricht der totalen Kontrolle, die im totalen Krieg durch Gleichschaltung und Propaganda erreicht werden.

In diesem Kapitel geht es daher um Daten und Konsens. 

Damit euer Unternehmen eurem Publikum auf Augenhöhe begegnet und nicht feindlich. Du reflektierst euren Umgang mit Marketingdaten und erarbeitest erste Ideen für eine Marketing-Datenstrategie in deinem Unternehmen.

– Nach dem Lesen dieses Kapitels kannst du: