„All Marketers Are Liars“ lautet der Titel eines Bestsellers von Seth Godin: Alle Marketing-Profis sind Lügner_innen.
Eine harte Anklage. Doch auf viele Menschen wirkt sie intuitiv berechtigt.
Schon als Kinder lernen wir nämlich, Marketing zu misstrauen. Denn, so bringt man uns bei:
- Werbung übertreibt.
- Sie spielt mit Fantasie und Fiktion.
- Sie deutet Zusammenhänge an, die in der Form nicht bestehen.
- Und macht sogar Versprechen, die sie nicht einhält.
Mitarbeitende in Werbeagenturen genießen kaum Vertrauen, ergab eine deutsche Studie mit ca. 2.000 Teilnehmenden im Juli 2022. In einer Liste von 31 Berufen liegen sie mit 8 % auf dem vorletzten Platz, dicht gefolgt von Versicherungsvertreter_innen mit 7 %. Das betrifft laut Statista immerhin über 472.000 Menschen.
Es stellt sich die Frage: Stimmt das?
Haben wir und Hunderttausende andere diesen Job etwa mit der Absicht gewählt, Menschen ständig absichtlich zu täuschen?
Nehmen wir mit unserer Berufswahl in Kauf, dass wir unentwegt unethisch handeln müssen, um erfolgreich zu sein?
Marketing und seine ethische Bandbreite
„Not liars, storytellers“, berichtigt denn auch Seth Godin den Titel seines Buchs. Nun ist Geschichtenerzählen ja an sich erst einmal nichts Verwerfliches. Bei der ethischen Beurteilung kommt es drauf an, wer wem wie wozu welche Geschichte erzählt:
- Erzählen wir (wie Pippi Langstrumpf und Münchhausen) zur Unterhaltung Lügengeschichten?
- Erzählen wir Märchen, um Menschen gefügig zu machen – sie zu manipulieren (wie es beispielsweise der Struwwelpeter tut)?
- Oder überzeugen wir andere mit Fabeln, Parabeln und anderen Beispielgeschichten (wie Brechts Herr Keuner oder LaFontaines Fabeln)?
Diese Beispiele möglicher Storys zeigen: Es lohnt sich, genau auf die Wortbedeutungen zu schauen.
Viele Unternehmen trauen sich nämlich nicht an ethisches Marketing heran, weil ihnen die klare Unterscheidung zwischen Lüge, Manipulation, Einflussnahme und Überzeugung nicht gelingt. Scharfe Begrifflichkeiten sind aber als Orientierungspunkte bei alltäglichen Marketing-Entscheidungen unerlässlich.
Nicht jede Einflussnahme ist gleich Manipulation
Ohne Einflussnahme kein Marketing
Beeinflussung hat zum Ziel, das Denken, Fühlen und Verhalten von Person zu verändern. Der Begriff ist an sich ethisch neutral: Es kommt ganz darauf an, welche Methoden der Einflussnahme wir nutzen.
Manipulation zwingt anderen unseren Willen auf – mal subtil, mal weniger subtil
Unter Manipulation versteht man das versteckte, heimliche Beeinflussen einer Person oder Gruppe. Solche Methoden tun anderen Gewalt an, denn sie üben Druck auf sie aus und schränken ihre Entscheidungsfreiheit ohne ihre Zustimmung ein.
Gängige Techniken sind
- das Beschämen, um ein bestimmtes Verhalten oder einen Kauf zu erreichen (zum Beispiel Deo-Werbung, in der Menschen wegen ihres Körpergeruchs ausgeschlossen oder beschimpft werden)
- das Verwenden von Frames, um die Realität so zu verzerren, dass nur das vom Unternehmen gewünschte Handeln erstrebenswert scheint (zum Beispiel die Darstellung von lauten Motorengeräuschen als besonders männlich, wodurch Elektromobilität oder Fahrradfahren weniger attraktiv wirken)
- die Anwendung verhaltenswissenschaftlicher Techniken, um vernünftige, bewusste Entscheidungen zu verhindern (zum Beispiel das Werben mit – teils künstlich erzeugter – Dringlichkeit oder knappem Angebot, sodass Kund_innen auf der Stelle handeln müssen).
Ethisches Marketing hat zum Ziel, dass Menschen aus voller Überzeugung ja sagen
Im Gegensatz zur Manipulation findet Überzeugung nicht heimlich, still und leise statt. Wir können andere nur überzeugen, wenn sie sich überzeugen lassen. Das ist vor allem eine Sache der Rhetorik. Die „Kunst der Überzeugung“ umfasst Techniken wie diese:
- Argumente
- Referenzen, Bewertungen
- Fallstudien, Beispielgeschichten
- Glaubwürdigkeit und Ruf der Marke oder des Unternehmens
- Wortwahl und stilistische Mittel
- Erzeugen von Emotionen beim Publikum
Ganz klar: Auch Rhetorische Mittel kann man manipulativ einsetzen – oder zur Informationsvermittlung oder Unterhaltung. Es geht also nicht immer bloß um die Mittel, sondern vor allem auch um den Zweck.
Wenn du dir nicht 100 % sicher bist, ob eine Kampagne, ein Website-Text oder ein anderes Element eures Marketings Menschen manipuliert, liefert dir der folgende Schnelltest erste Anhaltspunkte.
Schnelltest: Überzeugt ihr noch oder manipuliert ihr schon?
Testet euer Marketing anhand des Transparenz-Prinzips (Publicity Principle) des US-amerikanischen Philosophen John Rawls (1971). Du kannst den Test allein oder im Team durchführen.
Schreibe stichpunktartig zu jedem Element (Absatz, Button, Bild usw.) hinzu, welche Technik ihr hier einsetzt, um euer Publikum zu beeinflussen. Beispiel:
- Wertversprechen nach dem Muster „Produkt ermöglicht Vorteil für Zielgruppe auf besondere Weise“
- Produktdetail 1: Material des Produkts wird genannt
- Vorteil von Produktdetail 1: Angenehme Haptik, Bruchsicherheit – Stilmittel: Paradox soll amüsieren und Produktvorteil verdeutlichen („So hart war Zart noch nie“)
- Referenz zu Produktdetail 1: Kundenstimme mit Namen und Foto, 4 von 5 Sternen (Link zum Nachweis fehlt), Testsiegel zur Bruchsicherheit (Link zum Nachweis fehlt)
- Call-to-Action: „In den Warenkorb“
- Zähler: „Beeil dich! Nur noch X Artikel verfügbar!“ betont Dringlichkeit. Verfügbarkeit ist nicht direkt mit dem Lagerbestand gekoppelt und daher rein fiktional / künstlich.
Ist sie unethisch, spürst du das wahrscheinlich. Vielleicht fällt es dir zunächst schwer zu benennen, was ihr hier warum tut. Oder es hätte für euer Unternehmen unangenehme Folgen, offen zu diesen Techniken (beispielsweise künstlich erzeugter Dringlichkeit) zu stehen. Außerdem kann es sein, dass dir bei Gedanken an eine Veröffentlichung unwohl wird. Zum Beispiel sind die Beschwerden, Presse-Skandale und Gerichtsverfahren vorprogrammiert, wenn ein Unternehmen Gamification nutzt, um Kinder dazu zu bringen, dass sie ohne Zustimmung der Eltern In-App-Käufe tätigen.
Bei ethisch vertretbaren Techniken wie wahrheitsgemäßen Verkaufsargumenten oder dem Einsatz von echten Kund_innenstimmen hingegen fühlt sich die „Beschriftung“ eher unproblematisch an. Oft sind die Labels offensichtlich und legen lediglich die Struktur des Texts oder der Seite offen.
Wie soll’s weitergehen?
Ziehe Kund_innen aufgrund von Publikumsforschung respektvoll an oder stöbere direkt in der Toolbox zu Kapitel 2.