Unternehmerische Vorteile von Barrierefreiheit sind zurzeit ein Trendthema. Die Aktion Mensch nennt einige in ihrem Beitrag „Barrierefreie Website: Einfacher für alle Menschen“:

  • Customer Experience, SEO und digitale User Experience werden optimiert.
  • Davon profitieren nicht nur Schwerbehinderte, sondern alle Nutzenden.
  • Barrierefreie Websites erreichen also „mehr potenzielle Kund_innen“.

Ethisches Marketing schaut aber nicht nur auf den unternehmerischen Gewinn, der durch Barrierefreiheit entsteht. Teilhabe und Inklusion ohne frustrierende Hindernisse sind nämlich ganz klar eine Mindestanforderung für das gute Leben. Mit Onkel Kant könnte man sagen: ein kategorischer Imperativ. Oder einfach ausgedrückt:

Barrierefreiheit ist unverzichtbares Kriterium für ethisches Handeln im Marketing

Dennoch sind wir noch weit von Marketing ohne Barrieren entfernt. Das liegt vor allem daran, wie wir als Gesellschaft über Barrieren denken und sprechen.

– Wie wir über Barrieren denken, ist entscheidend

Das medizinische Modell: „Du bringst deine Barrieren mit, und wir helfen dir“

Vielfach sprechen wir über Barrierefreiheit, wenn es um die Gleichstellung von Behinderten geht. Doch dieser Ansatz geht vom medizinischen Modell von Behinderung aus: als ob Behinderung gesundheitliche Einschränkungen sind, die man „hat“ – und daraus entsteht automatisch eine Barriere.

Das soziale Modell: „Wir haben die Barrieren errichtet, und wir müssen sie reduzieren“

Seit den 1980er-Jahren breitet sich dagegen immer mehr das soziale Modell von Behinderung aus. Mittlerweile gilt die Gesellschaft als Ursprung von Behinderung: Systemische Barrieren sowie negative Einstellungen grenzen Menschen aus. Sie verwehren ihnen volle „Teilhabe am kulturellen und politischen Leben, an der Arbeitswelt und in der Freizeit“ (laut Definition der Aktion Mensch).

Barrieren grenzen nicht nur Behinderte aus

In diesem Leitfaden betrachten wir Barrierefreiheit ganzheitlich.

Einerseits geht es um Barrierefreiheit für Behinderte, wie zum Beispiel:

  • Leitsysteme im Straßenpflaster für Blinde und Sehbehinderte.
  • Dolmetschen in Gebärdensprache für Taube und Hörbehinderte.
  • Notfallknöpfe in rollstuhlgerechten Toiletten oder Rampen für motorisch Behinderte.
  • Bücher in Leichter Sprache für Lernbehinderte, beispielsweise mit Down-Syndrom.
  • Farbkontraste, Alternativtexte für Bilder oder Website-Overlay-Tools in der digitalen Welt.

Behinderungen gehen uns alle an: Wer schon einmal in der Sonne versucht hat online einzukaufen, wegen eines gebrochenen Arms einhändig tippen musste oder während einer Erkältung nicht telefonieren konnte, kennt den ausgrenzenden Effekt von Barrieren aus eigener Erfahrung.

Und je älter wir werden, umso wahrscheinlicher ist es, dass wir auf behinderungsbezogene Barrieren stoßen. Denn laut Aktion Mensch sind nur 4 % der Behinderungen angeboren. Die meisten entstehen durch Krankheit oder Unfälle im Laufe des Lebens. Nicht zu sprechen von den geistigen und körperlichen Einschränkungen, die das Altern selbst mit sich bringt.

Info

Außer Behinderten sind auch Neurodiverse auf Barrierefreiheit angewiesen. Dazu zählen Menschen mit

  • ADHS
  • Autismus
  • Legasthenie
  • Dyskalkulie
  • Dyspraxie
  • Tourette
  • Epilepsie
  • komplexer posttraumatischer Stress-Störung (CPTSD)

und mehr.

– Wer marginalisiert wird, muss mehr mit Barrieren kämpfen

Mit dem sozialen Modell von Behinderung hat sich auch die Definition von Barrierefreiheit (Accessibility) erweitert. Während Behinderte nach wie vor die meisten Barrieren erleben, wächst eine intersektionale Deutung des Begriffs: Barrieren schränken nicht nur geistig oder körperlich behinderte und neurodiverse Personen ein, sondern alle marginalisierten Menschen.

  • Wer dick ist, wird beispielsweise oft durch zu kleine Sitzplätze oder einen Mangel an Plus-Size-Modellen an gesellschaftlicher Teilhabe gehindert.
  • Nichtbinäre und Transpersonen werden häufig sprachlich und sozial ausgeschlossen.
  • Für Personen mit geringem Einkommen gibt es viele sozial-ökonomische Barrieren – vor allem durch hohe Preise.
  • Menschen mit internationaler Biografie mögen noch so gut ausgebildet sein und noch so viele Sprachen beherrschen. Wenn sie deine Sprache nicht verstehen, entsteht eine Barriere.

Im Marketing können 6 Arten von Barrieren entstehen:

  1. physische (zum Beispiel fehlende Textalternativen für audiovisuelle Inhalte, zu kleine Abstände zwischen Klickelementen, Event-Räume physisch unzugänglich oder zu laut)
  2. soziale (systemische Diskriminierung durch Sexismus, Rassismus, Ableismus, Klassismus, Altersdiskriminierung und ähnliche)
  3. finanzielle (durch hohe Preise, unflexible Zahlungsbedingungen, Voraussetzen einer Kreditkarte im Checkout-Ablauf und so weiter)
  4. institutionelle (beispielsweise Einstellungspraxis in Marketingteams, Prozesse und Anforderungen bei der Gestaltung von Kampagnen)
  5. kommunikative (zum Beispielsweise fehlender Zugang zu Übersetzungen, schwere Lesbarkeit der Texte, Nutzung von Jargon)
  6. haltungsbezogene (sozio-politische Einstellungen, Vorurteile gegenüber bestimmten Praktiken, Unconscious Biases wie zum Beispiel Verlust-Aversion)

Quelle: Workshop „Business as the Doorway to Access“ von Katherine Lewis

Die Liste zeigt: Ohne Verwurzelung in der Intention eures Unternehmens, ohne praktische Integrität ist Barrierefreiheit nicht zu erreichen. Die folgenden Beispiele zeigen im Detail, warum eine enge Verzahnung eurer Teams unabdingbar ist.

Da beide Autor_innen queer sind, fallen uns Barrieren für LGBT+ Communities besonders auf. Die Website-Screenshots und der folgende Kasten zeigen exemplarisch, wie intersektional echte Zugänglichkeit ist.

Screenshot der Burger King Landing Page für Pride 2022. Die Überschriften sind in Regenbogenfarben gehalten. Am unteren Rand gibt es Fotos der beiden Pride Whopper: links ein Whopper mit 2 Unterteilen, rechts einer mit 2 Oberteilen. Der Text lautet: „PRIDE 2022 Juni ist Pride Month. In diesem wundervollen Monat feiert die LGBTQI+ Community ihre Freiheit und setzt sich für Anerkennung und Gleichberechtigung in der Gesellschaft ein. Wir von BURGER KING® Österreich setzen ein klares Zeichen für gleiche Liebe und gleiche Rechte. Aus diesem Grund feiern wir gemeinsam mit der Community und haben uns dafür eine besondere Aktion überlegt: den PRIDE WHOPPER®. PRIDE WHOPPER® Mit zwei gleichen Buns. Für gleiche Liebe & gleiche Rechte. Wir präsentieren: den PRIDE WHOPPER® . Eine Special Edition mit zwei gleichen Buns für gleiche Liebe und gleiche Rechte. Wir setzen damit ein Zeichen für Individualität und Freiheit und stehen für einen respektvollen Umgang miteinander. Gleiche Rechte. Empathie. Verständnis. Egal wo Du herkommst, egal wen Du liebst, egal wie Du aussiehst oder woran Du glaubst: #TimeToBeProud“

Peinlicher Shitstorm zum „Pride-Whopper“: Die Pride-Kampagne 2022 von Burger King Österreich löste starke Kritik aus. Der Burger sollte durch die Verwendung von zwei gleichen Buns „ein Zeichen für Individualität und Freiheit“ setzen. Doch die Einteilung von queeren Personen in „Tops“ und „Bottoms“ reduziert sie auf Sexualpraktiken und dehumanisiert sie dadurch. Zudem fehlte eine Kopplung von Erlösen aus dem Verkauf dieses Burgers mit Spenden an Vereine oder NGOs. Weltweit wurde die Aktion daher vielfach als performatives „Pride-Washing“ wahrgenommen – als Versuch, sich an LGBT+ Communities anzubiedern, ohne einen tatsächlichen Beitrag zu deren Gleichstellung zu leisten.

Screenshot der englischsprachigen Produktseite für den Modibodi Menstruationsslip „Pride Longline Short Light-Moderate Hand Multi Print“. Die Shorts sind hellgrün und mit Händen in Regenbogenfarben bedruckt. Das Model Oscar trägt außer den Shorts ein weißes Unterhemd, sehr kurze Haare, einen Oberlippenbart, einen Ohrring, eine klobige Metalluhr und eine Kette mit Anhänger. Oscar lächelt und flext stolz die Oberarmmuskeln. Dabei sind Achselhaare und ordentlich Muckis zu erkennen. Am Hals, Bauch und den Beinen ist Oscar tätowiert. Der Beschreibungstext auf Deutsch: „Flow: 10 ml oder 1–2 Tampons. Für: Leichte bis mittelschwere Perioden oder Ausfluss an Tagen, an denen du einen Packer tragen willst. Dieser geschlechtsbejahende Stil kann von allen getragen und geliebt werden, die menstruieren. Er ist aus weichem und nachhaltigem Bambus gefertigt und verfügt über unsere patentierte saugfähige Technologie. Mit Platz, um bequem einen Packer zu tragen. Da 2 $ von jedem Verkauf an Twenty10 gespendet werden, solltest du ihn unbedingt in den Warenkorb legen.“

Genderinklusive Menstruationsunterwäsche: Das australische Unternehmen Modibodi bietet unter anderem Longline-Shorts mit Pride-Muster an. Model Oscar zeigt, dass Kund_innen die Hose mit Packer nutzen können, um auch während der Menstruation Gender-Dysphorie zu reduzieren. Zusätzlich gehen 2 australische Dollar pro verkauftem Artikel an die LGBT+ Organisation Twenty10.

Fühlen sich Menschen hier willkommen, wertgeschätzt und unterstützt?

Diese Frage empfiehlt die US-amerikanische Accessibility-Beraterin Katherine Lewis als Prüfstein zur Einschätzung, ob ein (virtueller) Raum oder ein Marketing-Element barrierefrei ist. Und fügt hinzu, dass eine hundertprozentige Barrierefreiheit unerreichbar ist. Denn Zugangsbedürfnisse verschiedener Menschen können einander widersprechen – und das gilt ebenso für die Akteur_innen im Unternehmen selbst.

Es gilt also, abzuwägen: Wessen Bedürfnisse kann unser Unternehmen auf welche Weise erfüllen?

– Bei der Gewichtung eurer Prioritäten könnt ihr euch wiederum an eurer Mission und eurem Wunschpublikum orientieren

  • Welche Barrieren treten für diese Menschen möglicherweise auf?
  • Wie lassen sich diese Barrieren ausräumen oder reduzieren?
  • Welche Verbesserungen erleichtern möglichst vielen Menschen die Teilhabe?

Wie soll’s weitergehen?

Prüfe, ob eure Buttons so ethisch und effektiv wie möglich sind oder stöbere direkt in der Toolbox zu Kapitel 2.