In Science-Fiction-Geschichten hört man manchmal von der Integrität der Hülle (hull integrity). Normalerweise während eines spannenden Kampfs mit feindlichen Außerirdischen oder Schurken, wenn ein Angriff das Schiff so stark beschädigt hat, dass es die Passagiere nicht mehr vor dem dunklen, kalten, tödlichen Vakuum des Weltraums schützen kann. Der Schiffsrumpf hat seine Integrität verloren. Eisiger Erstickungstod ist die unvermeidliche Folge.

Was ist „praktische Integrität“?

In diesem Sinne verwendet, trifft das Wort „Integrität“ kein moralisches Urteil, sondern ein rein funktionales oder praktisches. Materialien, Strukturen und Komponenten arbeiten (nicht mehr) gut genug zusammen, um ihre Aufgabe effektiv zu erfüllen.

Das Wort „praktische Integrität“ haben wir geschöpft, um die gegenseitige Abstimmung und enge Zusammenarbeit der Teams und Funktionen zu beschreiben, die für die Kundschaft und deren Erfahrung mit der Marke relevant sind. Oft sind das Produkt, Sales und Marketing.

– Ohne praktische Integrität zerbricht das Unternehmen

In Unternehmen wirkt fehlende praktische Integrität vielleicht weniger dramatisch und tödlich als auf der Enterprise. Aber nur auf den ersten Blick. Starke, kooperative Beziehungen schützen das Unternehmen nämlich auf die gleiche Art wie es bei der Enterprise die Materialien, Strukturen und Komponenten tun. Ohne enge Arbeitsbeziehungen wird die Firma unberechenbar oder gar chaotisch auftreten. Sie wird Kund_innen verwirren, unklare Botschaften verbreiten – mit sinkenden Conversion Rates als Folge. Nicht zuletzt steigt die Gefahr für Greenwashing, Datenschutzverstöße und irreführende Claims.

Ethisches Marketing ist ohne die Integration von Produkt, Marketing und Sales unmöglich.

Nicht nur das: Es lohnt sich auch finanziell, Produkt, Sales und Marketing eng zu vernetzen. Brainshark berichtet, dass Firmen ihren Umsatz um 25-50 % pro Jahr steigern können, wenn sich diese drei Teams gemeinsam an den Bedürfnissen der Kundschaft ausrichten.

Das klingt logisch – aber umgesetzt werden diese Erkenntnisse noch viel zu wenig. Die Realität sieht eher so aus:

– Sales, Marketing und Produkt sind oft nur schwach verbunden

Seit den frühen 2000er-Jahren beobachten wir: Praktische Integrität wird nur selten konsequent oder systematisch umgesetzt. Wohl auch, weil der Vorsatz, „gut zusammenzuarbeiten”, meist ohne praktische Handlungsanweisungen auskommen muss – und ohne eine unparteiische Begleitung oft ergebnislos bleibt. Selbst in erfolgreichen kleinen Unternehmen, wo eine engere Abstimmung aufgrund der überschaubaren Teamgrößen zumindest theoretisch leichter sein sollte.

Studien untermauern unsere persönliche Erfahrung. Eine Umfrage von InsideView aus dem Jahr 2018 listet die sechs größten Hindernisse für die Zusammenarbeit von Sales und Marketing im B2B-Bereich (unsere Übersetzung):

  • Mangel an genauen gemeinsamen Daten zu Key Accounts und Leads (43 %)
  • Kommunikation (43%)
  • Mangel an gemeinsamen Leistungsmerkmalen (41%)
  • Schwierige/fehlerhafte Prozesse (37 %)
  • Fehlende Verantwortungsübernahme auf beiden Seiten (25 %)
  • Probleme beim Reporting (21 %)

So nützlich solche Schlagwörter und High-Level-Ergebnisse auf den ersten Blick sind: In der Realität hängen diese Hindernisse meist zusammen. Und nur, weil ich weiß, dass es Probleme bei der Kommunikation gibt, habe ich ja noch lange keine konkrete Lösung parat. Aber genau die braucht es, um praktische Integrität zu erzeugen: Viele konkrete Verhaltensänderungen.

Beispiel: Sales

Ein Vertriebsteam formuliert das Wertversprechen des Produkts um. In dem Glauben, dass es sich dann besser verkauft – und das Team die anderen Vertriebsteams ausstechen kann.

Probleme (u. a.):

  • Kommunikation (Verwirrung entsteht durch mehrere Wertversprechen für dasselbe Produkt)
  • Schwierige/fehlerhafte Prozesse (Marketing- und Produktteams werden nicht einbezogen, obwohl das Wertversprechen in deren Bereiche fällt)
  • Fehlende Verantwortungsübernahme (Vertriebsteam sucht Verantwortung für mangelnde Ergebnisse in der Arbeit anderer, statt Verantwortung für die eigene Leistung zu übernehmen)

Beispiel: Marketing (intern)

Der CMO fordert nicht, dass Marketinginhalte Leads dabei helfen, sich weiterzubilden und zu entscheiden, ob das Produkt zu ihnen passt (sogenanntes „Education Marketing“). Dadurch bleiben grundlegende Information und Lead-Qualifizierung komplett am Sales-Team hängen – was den Verkaufszyklus um das Doppelte verlängert.

Probleme (u. a.):

  • Mangel an genauen gemeinsamen Daten zu Key Accounts und Leads (Marketingteam hat keine Daten dazu, wie Stage of Awareness von Leads und deren Conversion Rate zusammenhängen. Dadurch kann der CMO keinen Business Case für Education Marketing erstellen.)
  • Mangel an gemeinsamen Leistungsmerkmalen (Zielsetzungen in Marketing und Sales sind nicht ausreichend miteinander verknüpft, denn sonst gäbe es ausreichend gemeinsame Daten zu so zentralen Themen wie Lead Generation, Stages of Awareness und Conversion Rates)
  • Schwierige/fehlerhafte Prozesse (Sales-Team wird nicht regelmäßig in die Marketing Content Strategie eingebunden)
  • Probleme beim Reporting (Marketing-Team hat möglicherweise keinen Zugang zu wichtigen Sales Reports wie Länge des Verkaufszyklus oder Sales Conversion Rates)

Beispiel: Marketing (externe Agentur)

Die Agentur bzw. das Marketingstudio entwickelt Inhalte und Kampagnen, ohne sich regelmäßig mit Kund_innen, Vertriebs- oder Produkt-Mitarbeitenden zu treffen.

Probleme (u. a.):

  • 80 % der erstellten Inhalte werden vom Sales-Team nicht genutzt (das belegt eine Studie von Content Marketing Institute und LinkedIn).
  • Viele brillante Anzeigen steigern den Umsatz nicht – und führen manchmal sogar zu Empörung in den sozialen Medien, weil sie die Fähigkeiten des Produkts oder die Customer Experience nicht wahrheitsgetreu widerspiegeln.

Beispiel: Produkt

Ein bestimmtes Produktteam passt vorhandene Personas, Botschaften und Markenattribute, die von der Marketingabteilung des Unternehmens erstellt wurden, an ihre spezifische Produktlinie an.

Probleme (u. a.):

  • Dabei verliert das Team aus dem Auge, dass Kund_innen meist das gesamte Unternehmen erleben, nicht nur ein einzelnes Produkt.
  • Im Resultat wird die Produkt-/Dienstleistungslandschaft derart verwirrend, dass Sales-Executives 1:1-Betreuung durch Produktmanager_innen brauchen, um das Produkt und seine Anwendungsfälle zu verstehen.

Praktische Integrität schaffen: So klappt’s

Wenn Marketing, Sales und Produkt systematisch und respektvoll zusammenarbeiten, stellt sich schnell heraus: Problemlösungen können nicht länger an den Türen der eigenen Abteilung enden. Gleiches gilt für Initiativen wie Markt- und UX-Forschung (zusammengefasst: Research & Discovery). Infos über Verkaufszyklen, Sales-Leitfäden oder Go-to-Market-Prozesse müssen für alle Teams zur Verfügung stehen.

Diese Art der Zusammenarbeit erfordert bewusste Veränderungen der Gewohnheiten und der Unternehmenskultur. Erfolg ist nur möglich, wenn Teams aufhören, sich in abteilungsinterne Silos zurückzuziehen – und Kontrolle wie Verantwortung für Ergebnisse zu teilen.

Natürlich ist auch die volle Beteiligung und Zustimmung eures Führungsteams und ggf. eurer Investor_innen entscheidend.

– Von der Sales Pipeline bis zum Produktmarketingbericht: Ineinandergreifende Leistungsanforderungen fördern praktische Integrität

Praktische Integrität bedeutet, dass ihr jeden Berührungspunkt mit dem Markt danach bewertet, wie gut er für das gesamte Unternehmen funktioniert.

– Mit diesem Mini-Workshop stimmt ihr Sales, Marketing und Produkt besser aufeinander ab

Wenn du deine eigene Organisation auf praktische Integrität testen und die Lücke zwischen Realität und Anspruch sehen willst, versuche diese Übung.

Es gibt zwar keine Abkürzung zur praktischen Integrität, aber Beschleuniger

Wenn ihr euch daran macht, die praktische Integrität in eurem Unternehmen zu verbessern, werdet ihr wahrscheinlich feststellen, dass ihr gründlicher arbeiten müsst. Die Ergebnisse eurer Bemühungen werden jedoch auch nachhaltiger sein.

Konsens zu finden und gemeinsame Praktiken aufzubauen, mag sich zunächst wie eine langsame Plackerei anfühlen. Aber die Früchte eurer Arbeit werden euch später unzählige Stunden und Ressourcen sparen.

Darüber hinaus schafft ihr eine stimmige Customer Experience – egal ob jemand mit eurer Website, E-Mails, Anrufen, Präsentationen, Verträgen, technischen Dokumentationen, Veranstaltungen, Social-Media-Aktivitäten oder Rechnungen interagiert. Eure Kundschaft wird spüren, dass sie euch wichtig ist – schließlich habt ihr die Kommunikation bewusst gestaltet.

Wie soll’s weitergehen?

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